von Thomas Walgrave, künstlerischer Leiter des Alkantara-Festivals in Lissabon
Aus dem Englischen übertragen von Henning Bochert
Meine Meinung ist die: Wenn in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es Gewalt. Wir wissen, was wir von unseren Fürsten zu erwarten haben. Alles, was sie bewilligten, wurde ihnen durch die Notwendigkeit abgezwungen. Und selbst das Bewilligte wurde uns hingeworfen, wie eine erbettelte Gnade und ein elendes Kinderspielzeug (…)
Georg Büchner, Brief an die Familie vom 5. April 1833
Dies waren die allerersten Worte – aus einem Brief von Georg Büchner an seine Eltern 1833 – die ich Tiago Rodrigues auf einer Bühne sprechen hörte. Das war im Sommer 1997, Theaterleiter Jorge Silva Melo hatte unsere Truppe STAN für eine Vorstellungsserie und einen längeren Workshop mit ungefähr 25 jungen portugiesischen Theatermachern ins Centro Cultura de Belém (CCB) nach Lissabon eingeladen. Damals waren alle und alles noch jung: das CCB gab es erst seit ungefähr fünf Jahren, STAN seit kaum acht, Jorge war noch keine 50. Tiago, 21 Jahre alt (genauso alt wie Büchner, als dieser den fraglichen Brief schrieb), war der Jüngste von uns allen. Er ging noch aufs Konservatorium, hatte wahrscheinlich nicht das technische Rüstzeug wie einige seiner älteren Kollegen, aber da stand er auf der Bühne der Blackbox und sprach Büchners Worte mit solcher Klarheit, Authentizität und Klugheit, dass man nicht um ihn herumkam. Es sollte der Anfang einer lange andauernden romantischen Beziehung mit STAN werden. Tiago hat an zirka sieben Inszenierungen der flämischen Truppe mitgearbeitet (neben ein paar Cameo-Auftritten in anderen). Aber das ist eine andere Geschichte.
Noch einmal Sommer, nun 2006. Tiago Rodrigues hat mich gebeten, bei URGÊNCIAS 2006 mitzuarbeiten, der zweiten Ausgabe eines Projektes im Teatro Maria Matos in Lissabon. Am Anfang standen eine Reihe neuer, kurzer Theatertexte von einem Dutzend portugiesischer Autoren, eine Gruppe Schauspieler und eine Frage: „Was hast du so Dringendes zu sagen?“
Mundo Perfeito war drei Jahre zuvor gegründet worden, und URGÊNCIAS ist das erste Produkt dieser Truppe, die in den kommenden Jahren einen wichtigen Platz in der portugiesischen Theaterlandschaft und darüber hinaus einnehmen wird: um den Schauspieler/Regisseur/Autor Tiago Rodrigues und die Geschäftsführerin/Produzentin/Fotografin/noch-vieles-mehr Magda Bizarro herum entstehen sehr unterschiedliche, aber stets innovative Arbeiten, die das Zeitgenössische mit Verständlichkeit und Gründlichkeit mit Humor verbinden. Mundo Perfeito entwickelt in schwindelerregender Folge (33 Produktionen in elf Jahren!) Projekte, die häufig mit dem Schreiben eines neuen Textes beginnen. Das Ergebnis ist ein umfangreiches und verblüffendes Repertoire, das mit großer Dringlichkeit eine Reihe brennender Fragen zur Diskussion stellen will. Die Folge der Produktionen von Mundo Perfeito liest sich auch wie ein Lernprozess und zeigt eine unersättliche Neugier und einen tiefen Glauben an den „Homo universalis“ des Humanismus, das Bild des Künstlers, der Allgemeinwissen über die Welt anhäuft, anstatt sich zu spezialisieren.
Ein Ein-Mann-Ensemble
Allerdings ist Mundo Perfeito alles andere als das Unternehmen eines Einzelnen – in den letzten zehn Jahren hat es nur zwei Monologe hervorgebracht (STAND UP TRAGEDY 2006 und YESTERDAY'S MAN 2007). Sich selbst bezeichnet es ausdrücklich als ein offenes Haus, beständig auf der Suche nach Mitstreitern in seinem selbsterklärten „Kampf gegen die Mächte des Bösen“. Das Resultat ist eine Serie von Kollaborationen mit einer beeindruckenden Liste portugiesischer und internationaler Künstler: mit dem Libanesen Rabih Mroué und Tony Chakar bei YESTERDAY'S MAN (2007), dem Filmregisseur João Canijo, dem kongolesischen Choreograf und Theatermacher Faustin Linyekula, dem amerikanischen Nature Theater of Oklahoma und Foguetes Maravilha aus Rio de Janeiro bei Estudíos (2008 und 2009); unter anderen mit Tim Etchells, Alex Cassal, Miguel Castro Caldas, Zé Maria Vieira Mendes und Jacinto Lucas Pires in HOTEL LUTÉCIA (2010), mit anderen Gruppen wie STAN bei BERENICE (2005) oder Dood Paard bei THE JEW (2011), noch einmal mit Foguetes Maravilha bei MUNDO MARAVILHA (2013); mit Autor / Musiker Jacinto Lucas Pires bei INTERPRETAÇÃO (2014) oder mit Sofia Dias und Vítor Roriz bei ANTÓNIO E CLEÓPATRA (2014).
Darüber hinaus hat das offene Haus eine Reihe von Stammgästen versammelt. Über die Jahre ist eine Gruppe von Schauspielern allmählich Teil des Ensembles geworden, auch wenn sie die Freiheit behielten, an Projekten außerhalb von Mundo Perfeito zu arbeiten. Das lockere Ensemble von Cláudia Gaiolas, Tónan Quito, Paula Diogo, Isabel Abreu, Gonçalo Waddington, Pedro Gil und anderen ist so grundlegend wichtig, weil Mundo Perfeito im Wesentlichen lebendiges Theater (Living Theater) macht: Vorstellungen, die zu 200 Prozent im Hier und Jetzt verankert sind, weit entfernt von den Konventionen einer Probe (im Sinn des französischen Wortes „répéter“, „wiederholen“) und vom Reproduzieren, im vollen Bewusstsein der Einzigartigkeit der Begegnung zwischen diesen Darstellern, diesem Publikum in diesem Raum, an diesem Abend. Das bringt eine große Verantwortung – und Freiheit – für die Schauspieler mit sich, die die Vorstellung jeden Abend neu erschaffen.
Vor allem ist es eine sehr großzügige Art und Weise, Theater zu machen. Sie schöpft die ganz besondere Kraft des Mediums vollständig aus und führt zu bemerkenswert zugänglichen Inszenierungen, ohne je belehrend oder populistisch zu sein.

Lebendiges Theater
Mundo Perfeito verbindet Bühne und Leben auf eine weitere Art. Der Premierminister Pedro Passos Coelho, der Fernsehmoderator João Adelino Faria, berühmt-berüchtigte portugiesische Politiker wie Marcelo Rebelo de Sousa oder Alberto João Jardim werden direkt auf die Bühne eingeladen. Eine Landkarte von Beirut wird an die Theaterwände gemalt. Die Küche von O que se leva desta vida riecht intensiver und blubbert lauter als jede Küche im echten Leben. Figuren und Situationen, die sich zu ihrer eigenen Überraschung in einem Theatersaal wiederfinden, realer als real, hyperreal. In den Inszenierungen von Mundo Perfeito scheint die metaphorische Distanz zwischen Bühne und Realität auf den ersten Blick gleich null zu sein. Im Repertoiretheater geht es in aller Regel andersherum: ein alter Grieche, ein Shakespeare, Ibsen oder Molière wird inszeniert, um die Universalität des menschlichen Befindens über Raum und Zeit hinweg zu zeigen. Bei Mundo Perfeito ist es nicht so sehr Kreon, der der Korruption und Blindheit der Macht einen Spiegel vorhält; vielmehr ist es ein Premierminister Pedro Passos Coelho, der seine Schuhe auszieht, ein Croissant isst und zu Kreon wird. Situationen aus den vermischten Meldungen der Tageszeitungen werden in die Allgemeingültigkeit erhoben. Diese Herangehensweise an Theater ähnelt vielleicht der eines Theatermachers wie dem Ungarn Béla Pintér, der sehr lokale, in der Zeit gebundene Themen verwendet, um absolut allgemeingültige Geschichten zu erzählen.
Und auch wenn in den letzten Jahren William Shakespeare oder Gustave Flaubert mit von der Partie waren, so wurde ihnen ein Platz im Zuschauerraum zugewiesen, damit sie ihre Worte durch das Atmen von Großmutter Cândida (BY HEART), die Körper und Handlungen von Sofia Dias und Vítor Roriz (ANTÓNIO E CLEÓPATRA) oder die Argumente der Anwälte im berühmten Verfahren von 1857 (BOVARY) vernehmen konnten.
Fiktion spielt hier eine zentrale Rolle
Mundo Perfeito macht alles andere als Dokumentartheater. Im Gegenteil wird Realität hier auf schamlos manipulierte, fiktionalisierte Weise mit einem riesengroßen „Was wäre, wenn“ auf die Bühne gezerrt, wo der Fantasie keine Grenzen gesetzt sind. Es steckt etwas extrem Subversives in dieser Macht der Fantasie, in dieser Forderung nach dem Recht, sich eine gänzlich neue Realität zu erträumen, und sei es auch mit denselben Zutaten wie in der alten. Sie ist eng verwandt mit der kindlichen, provokativen Naivität der Dadaisten (man sehe sich allein den Namen der Gruppe an), eines Kurt Schwitters, der konstatierte: Wir fordern die unmittelbare Abschaffung allen Missbrauchs in der Welt.
Apropos Welt: Mundo Perfeito mit Inszenierungen, die von sehr spezifischen, lokalen Themen abheben, ist überraschenderweise die portugiesische Theatergruppe mit der mit Abstand größten internationalen Aufmerksamkeit. Das sagt eine Menge über das Bedürfnis nach Authentizität und Identität im Theater sowie auch über das Missverständnis des sogenannten universellen Euro-Theaters. Aber der internationale Erfolg von Mundo Perfeito ist auch ein deutliches Zeichen dafür, wie die Organisation funktioniert: Sie ist ein organisches Wesen, sehr weit entfernt von der beinahe kriegerischen herkömmlichen Theatercompagnie mit ihren künstlerischen Generälen, ihrem Korps von Geschäftsführern, Produktionsbüros und Kommunikationsexperten, ihren Schauspieler- und Technikertruppen. Bei Mundo Perfeito sind der Küchentisch und die Technikkabine, das Badezimmer und die Garderobe nahtlos miteinander verbunden. Sie benötigt keine Unmenge an Besprechungen, um alles zu organisieren. Tiago hat sie einmal verglichen mit einem „kleinen Kiezgeschäft, dem Bäcker an der Ecke, wo das Menschliche, das Authentische und Aufrichtige den Ton angeben, wo wir wissen, woher die Dinge kommen und wohin sie gehen.“ Man kann sie aber genauso gut als Guerilla-Kompanie bezeichnen, äußerst mobil, mit leichtem Gepäck, der Abstand zwischen den Dienstgraden auf ein Minimum reduziert. Eine Struktur, die sich ausschließlich nach den Bedürfnissen des künstlerischen Vorhabens richtet.
Elf Jahre Mundo Perfeito
Das ist ein Lagerhaus voller Bühnenbilder. Ein Regal voller Theaterstücke, die Texte mit bunten Markern angestrichen. Eine Reise so schnell wie in einer Achterbahn, voller Herausforderungen, immer getrieben vom Hunger, neues Terrain zu entdecken, Hindernisse zu überwinden. Und immer noch liegt da draußen eine ganze Welt, die nur auf Perfektion wartet.
Als ich diese Zeilen vor etwas mehr als einem Jahr schrieb, war nicht vorauszusehen, dass die Erde unter Lissabon Ende 2014 wieder beben würde, aber ganz anders als 1755: Tiago Rodrigues wurde der neue Leiter des Nationaltheaters (im portugiesischen Volksmund: Teatro Nacional Dona Maria Segunda). Küchentisch und Badezimmer von Mundo Perfeito zogen um in einen Palast aus Gold. Erst die Zukunft wird zeigen, ob dies die klassische Geschichte vom Rand ist, der vom Zentrum assimiliert wird – oder, um es politisch auszudrücken, ein Musterbeispiel von Marcuses repressiver Toleranz. In der Logik von Mundo Perfeito aber (oder eines südeuropäischen Subkontinents, der sich unter Hochdruck neu definieren muss) könnte es genauso gut ein Zeichen dafür sein, dass der Mittelpunkt der Erde sich verschoben hat. Dass ein paar Naturgesetze dringend überprüft werden müssen.
Thomas Walgrave
September 2013 / Februar 2015
Der Originaltext wurde anlässlich des zehnjährigen Jubiläums von Mundo Perfeito geschrieben, das im Teatro Maria Matos gefeiert wurde.
Fotos: Three Fingers below the Knee © MagdaBizarro . Yesterday's Man © Magda Bizarro