von Rimini Protokoll
Unser erstes Stück bei den Theaterformen begann mit einer sehr klassischen Szene: Ein roter Vorhang öffnete sich langsam und gab nach und nach den Blick auf die Bühne frei. Die Zuschauer saßen auf Tribünen mit ausgezeichneten Sichtlinien.
Fünf Wochen hatten wir in der Probenzeit auf diese Bühne geschaut und sind oft dem Sog erlegen, einfach nur zu starren, denn diese Bühne war kein leerer, schwarzer Raum, in den wir nach und nach unser Bühnenbild, unser Stück bauen würden, er war komplett ausgestattet, fertig mit allen nur erdenklichen Details und technischen Raffinessen, eine enorme Tiefe, perfekt ausgeleuchtet – auch!
Auch die Darsteller waren vom ersten Probentag an richtig gut dabei, sie spielten, als hätten sie nie etwas anderes gemacht: Die Rollen waren ihnen auf ihre Leiber zugeschnitten, sie waren ideenreich, textsicher – es war eine wahre Freude, und es waren Tausende, die in immer neu motivierten Gängen über die Bühne hetzten oder sich in Gruppenchoreografien des Wartens um die Uhr auf dem Kröpcke scharten!
Um unser Stück sehen zu können, waren die Zuschauer an den Kröpcke gekommen und mit dem Aufzug in die zehnte Etage gefahren. Sie waren in einen von drei Büroräumen des ehemaligen Katasteramtes gegangen, in die wir Holztribünen hatten bauen lassen und schauten nun – auf ihre Stadt als Bühne: Die Kröpcke- Uhr gleich auf der Vorderbühne, der Bahnhof in der Verlängerung einer sich damals noch im Bau befindenden Einkaufspassage und in weiter Ferne, am Horizont, der Flughafen. Nun saßen sie dort: Ferngläser in den Händen und Kopfhörer auf den Ohren, denn wir hatten diese Bühne verwanzt. Unten auf dem Platz waren Abhörer unterwegs. Sonden nannten wir sie. Gespräche wurden von ihnen weitergeleitet. Die Platzwanzen arbeiteten mal offensichtlich, streckten den sich unterhaltenden Passanten große, zottelige Mikrofone entgegen – mal agierten sie unerkannt, getarnt als Liebespaare konnten sie sich ganz dicht an die Sprechenden herantasten und mit ihren feinen Mikrofonen jede Silbe einfangen.
Auf einem kleinen Außenbalkon im zehnten Stockwerk hatten wir den Filter installiert – eine menschliche Suchmaschine – hier wurde entschieden was an die Zuschauer übertragen werden sollte, wohin sich die Mikrofone richteten, von hier aus wurde auch mit Livekommentar und vorproduzierten Texten und Geräuschen der Blick der Zuschauer gelenkt und geschärft. Details hoben sich ab, Fäden wurden gesponnen, Verdachtsmomente erzeugt – im eigentlich ganz normalen Hannover-Alltag.
Niemand konnte sich unten mehr sicher sein, dass er nicht längst Teil eines Spiel geworden war. Wir hatten diesen Blick während der Proben geteilt mit einem Detektiv, einem Jurist, einem Ökonom, einem Politologen und einem Flugbeobachter der Polizei-Helikopterstaffel Hannover, sie waren eingeladen worden als Kritiker, um ihre Interpretation des Stücks abzugeben, die dann als eine Art Fußballkommentar zum Leben wie es eben spielt auf die Kopfhörer der Zuschauer eingeschleust wurden.
Das dokumentarische Bild Hannovers wurde modelliert, bevor es mehr und mehr in ein fantastisches verändert wurde. Der 10. Stock wurde zum Observationszentrum.
In Hannover war damals wie heute das bundesweit renommierteste Institut für Kriminologie zu Hause. Hier laufen die Fäden der Überwachungsprotokolle zusammen. Hier werden Täterpsychogramme erstellt und die Erkenntnisse der Profiler gebündelt. Wie weltlich klingt ein normales Gespräch durchs Richtmikrofon? Wie alltäglich kann sich eine Stadt gebärden? Wieviel Anpassung wird verlangt, um nicht aufzufallen?
Jahre später haben wir Hannoveraner getroffen, die sagten, nachdem sie dieses Stück gesehen hatten, wäre sie nie wieder über den Kröpcke gelaufen. Sie hätten lieber einen Umweg in Kauf genommen als sich der Frage zu stellen, wer sie wohl jetzt gerade im Visier hat, denn der Blick der Zuschauer wurde auch auf das gegenüberliegende Dach des Hauses mit der roten Werbeaufschrift gelenkt um dort eine der vielen Kameras zu entdecken, die leise Tag und Nacht den Platz abtastet.
Inzwischen ist der Betonklotz mit dem ehemaligen Katasteramt am Kröpcke einem Bekleidungsgeschäft voller Glasvitrinen gewichen. Und auch das Leben der Hannoveraner ist durchsichtiger geworden. Das Raster der Überwachung jenseits des Kröpckes hat sich verfeinert. Der Blick aus Überwachungstürmen hat sich in digitale Trojaner verwandelt. In sozialen Netzwerken geben Nutzer weit mehr als nur ihre Bewegungen preis, und ihre Daten werden nicht nur von Warenhausdetektiven und Ökonomen und Flugbeobachtern ausgewertet. Seit Edward Snowden scheinen die Daten kein Ende mehr zu nehmen. In unendlich tagenden Untersuchungsausschüssen versucht sich das Parlament Überblick über den Überblick von Geheimdiensten zu verschaffen.
Im O einer roten Werbaufschrift schloss sich damals der Vorhang des Stücks. Betätigt durch einen schwindelfreien Darsteller, den Fensterputzer Harry Hubrig, der zwei Stunden zuvor den großen roten Vorhang aufgezogen hatte: vorsichtig balancierend auf dem schmalen Fenstersims des Kröpcke-Hochhaus im windigen zehnten Stock. Unten ging das Theater hinter dem roten Vorhang weiter.
SITUATION ROOMS, HAUSBESUCH EUROPA, REMOTE HANNOVER, 100 PROZENT BRAUNSCHWEIG, SABENATION. GO HOME & FOLLOW THE NEWS, BRUNSWICK AIRPORT, SONDE HANNOVER – Rimini Protokoll sind langjährige Begleiter der Theaterformen. Im Jahr 2000 haben sich Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel zu einem Autoren-Regie-Team zusammengefunden, seit 2002 laufen ihre Arbeiten aus den Bereichen Theater, Hörspiel, Film und Installation unter dem Label Rimini Protokoll. Im selben Jahr lud die Theaterformen-Leiterin Veronika Kaup-Hasler die drei Theatermacher, die damals noch am Anfang ihrer Karriere standen, erstmalig zum Festival ein. Gemeinsam mit Bernd Ernst entwickelten sie das Stück SONDE HANNOVER, das am Kröpcke spielte, dem zentralen Platz in der hannoverschen Innenstadt. Ihre Erinnerungen an diese Produktion im Jahr 2002 haben Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel anlässlich unseres 25. Geburtstags aufgeschrieben.
Foto: SONDE HANNOVER © Rimini Protokoll