von Sebastián Calderón Bentin
Aus dem Englischen von Henning Bochert
600 Highwaymen wurde 2009 von Abigail Browde und Michael Silverstone gegründet und avancierte rasch zu einer der vielversprechendsten Theatergruppen in New York. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Manhattan und in jüngerer Zeit auch Brooklyn zum Nährboden für experimentelles Theater und Tanz. Von den Sechzigerjahren an schufen Kollektive wie die Performance Group, das Living Theater, Judson Dance Theater, Grand Union, Bread and Puppet, das Open Theater, das Play-House of the Ridiculous und das Ontological-Hysteric Theater eine lebendige, experimentelle Performance-Szene in der Stadt. Der Einfluss dieser Künstler ist in der zweiten Generation von Theatermachern zu erkennen, die in den 1980er und 1990er Jahren breitere Aufmerksamkeit gewannen, z. B. Mabou Mines, die New York City Players, die Wooster Group, Elevator Repair Service, Radiohole, Big Dance Theater und die Builders Association, die alle heute weiterhin sehr aktiv sind. In diesem historischen Kontext erscheinen 600 Highwaymen im 21. Jahrhundert als dritte Generation von Avantgarde-Theatermachern, entwickelt aus der gut etablierten experimentellen Tradition der Stadt, die sie weiter ausbauen. Ebenfalls zu dieser jüngsten Generation gehören das Nature Theater of Oklahoma, die Big Art Group, Young Jean Lees Ensemble und die Civilians, um nur einige zu nennen. Für 600 Highwaymen ist der Einfluss dieser reichhaltigen Stadtgeschichte nicht nur geografisch, sondern auch im Hinblick auf die Bildung relevant: Browde und Silverstone haben an der Theaterabteilung der New York University unterrichtet, wo auch Theaterautoren und Schauspieler aus der traditionsreichen experimentellen Theaterlandschaft von New York lehren. Deswegen muss deutlich gemacht werden, wie eine dynamische Künstlergemeinde wie die New Yorker experimentelle Performance-Szene, die sich über Generationen hinweg gehalten hat, fruchtbare Bedingungen schafft, aus denen Gruppen mit der konzeptionellen Strenge und kreativen Vision wie der von 600 Highwaymen erwachsen.

Während diese jüngste Generation von Theaterkünstlern weiterhin die Theaterkonventionen auf unterschiedliche Weise in Frage stellt – von Young Jean Lees Analyse des amerikanischen Konzepts von Identität bis zum avancierten Einsatz von Multimediadesign der Big Art Group – unterscheiden sich 600 Highwaymen von anderen Gruppen durch die Kombination bestimmter Eigenschaften: zunächst durch ihre Arbeit mit nicht-professionellen Darstellern, dann durch ihre minimalistische Inszenierungstechnik als Möglichkeit, die reichhaltige natürliche Präsenz ihrer Darsteller hervorzuheben. Konsequent ausgeführt können diese Qualitäten jene überhöhte Schlichtheit erzeugen, die THE RECORD und EMPLOYEE OF THE YEAR im Wesentlichen ausmacht. In beiden Inszenierungen wird das Gewöhnliche zum Außergewöhnlichen, und was zuerst ganz einfach anmutet, gewinnt eine dichte Komplexität, die eine spezielle Art von Virtuosität sichtbar macht. Ich sage speziell, denn anders als im Ballett, der Oper oder dem klassischen Drama hat diese Virtuosität nichts gemein mit der perfekten Ausführung eines grand jeté, einer Arie oder eines Monologs. Es handelt sich vielmehr um eine viel elementarere Form der Virtuosität, da sie mit der grundsätzlichen Voraussetzung von Theater spielt: dem einfachen Vorgang, auf der Bühne zu stehen. Indem sie mit dieser wesentlichsten aller Theaterkonventionen spielen, die auf dem vorübergehenden Pakt zwischen jenen basiert, die zusehen und jenen, die sich zusehen lassen, erschaffen 600 Highwaymen minimalistische Inszenierungen, in denen die Grenze zwischen dem Schönen und dem Banalen verwischt. THE RECORD und EMPLOYEE OF THE YEAR berühren diese Kategorien mit so viel Einfühlungsvermögen und offenbaren das Großartige im Prosaischen so geschickt, dass sie eine neue Art von Virtuosität erreichen.
Mit dem Konzept der Virtuosität befasse ich mich deshalb so ausgiebig, weil diese Stücke die Vorstellungen von Expertise, Technik und Ausbildung, die wir mit virtuosen Darbietungen in Verbindung zu bringen gewohnt sind, unmittelbar in Frage stellen: in THE RECORD werden fünfundvierzig Menschen aus der umliegenden Nachbarschaft - oder im Fall von EMPLOYEE OF THE YEAR fünf Mädchen - zur Mitwirkung eingeladen. Auf diese Weise fordern THE RECORD und EMPLOYEE OF THE YEAR dazu auf, anders über Virtuosität nachzudenken, eher als horizontales denn als hierarchisches Verhältnis zu denen auf der Bühne. Bei dieser Art von Virtuosität geht es nicht um transzendente Schönheit in der unerreichbaren Ferne des Proszeniums. Es geht um eine wesentlich immanentere Form von Schönheit, die dem Zauber des Alltäglichen innewohnt. Auf diese Weise zitieren diese Stücke Arbeiten von Künstlern aus dem 20. Jahrhundert, z. B. von Kasimir Malewitsch, Marcel Duchamp, John Cage oder Yvonne Rainer, deren minimalistische Arbeiten zum Nachdenken darüber aufrufen, was der Anthropologe Michael Taussig die „Mastery of Non-Mastery“ nennt: eine Meisterschaft, die die Form ausleeren, die künstlerische Geste bis auf ihre nackte Notwendigkeit reduzieren und auf diese Weise die Grenze zwischen Kunst und Leben durchlässig machen will.

Erst die Weigerung von Browde und Silverstone, über den Minimalismus hinauszugehen, lässt das Banale erblühen: fünf Mädchen können über ihre Sterblichkeit reflektieren, und eine Gruppe von Fremden kann plötzlich ein Gefühl von Intimität auf der Bühne herstellen. Mit dem Ansatz, alltägliche Menschen auf die Bühne einzuladen, damit sie ihre Alltäglichkeit zelebrieren können, erinnern Browde und Silverstone an die dem gesellschaftlichen Leben innewohnende Theatralität. Es ist daher kein Zufall, dass einige Kritiker die Lebensnähe dieser Inszenierungen betonen. Charles Isherwood bemerkt in einer Kritik von THE RECORD, dass ihm das Stück „mit Ehrfurcht vor dem gemeinschaftlichen Erleben nicht nur von Theater, sondern des Lebens selbst“ berührt. Molly Grogan schreibt, dass das Stück „das Wesen des Menschseins, überhaupt des Daseins erforscht, der Bewegung und Interaktion mit Hunderten von anderen, die sind wie wir, aber nicht ganz.“ In dieser Arbeit manifestieren sich Leben und Sein durch idiosynkratischen Körperbau, Gesichter, Blicke, Gesten, Gänge, Stimmen und Kleidung der Darsteller auf der Bühne. In Unterschiedlichkeit, Vielfalt und Abwechslungsreichtum bestätigt sich das Menschliche nicht als beliebige Kategorie, sondern als unausweichliche Besonderheit: so wie wir, aber nicht ganz.
600 Highwaymen vermeiden aufwändige Bühnenbilder und zahlreiche Lichtstimmungen und konzentrieren sich lieber auf die Darsteller als zentrales Element im Theaterereignis: Geste, Zeit, Raum, Bewegung und Text werden zur Palette ihrer Arbeit. In dieser Hinsicht sind ihre Inszenierungen ebenso sehr Tanz wie Theater, was nur zeigt, wie sich die experimentellen Tanz- und Theaterszenen in New York überschneiden. Die Achtsamkeit und Schlichtheit der Inszenierungen von 600 Highwaymen resultieren in einem Formalismus, der die reiche Menschlichkeit ihrer Darsteller vergrößert. Auch in diesem Sinn kann man – in Niccolò Machiavellis Sinn von virtù – von der Virtuosität der Darsteller sprechen. Das lateinische virtus bedeutet Ausgezeichnetheit, virtù waren für Machiavelli nicht unbedingt christliche Tugenden, sondern eher jene Eigenschaften eines Menschen, die sich als kraftvolle Vitalität äußern. Genau diese Art von Lebenskraft durchzieht THE RECORD und EMPLOYEE OF THE YEAR. Durch sie erhaschen wir einen flüchtigen, aber bewussten Blick auf die Begabungen, Eigenschaften und Befindlichkeiten jeder Darstellerin und jedes Darstellers. Wir erhalten das Privileg, uns mit der Virtuosität ihrer Gegenwart als besondere Menschen zu befassen und im selben Zug über unsere eigene nachzudenken.
Fotos: Porträt Abigail Browde & Michael Silverstone © Tei Blow . EMPLOYEE OF THE YEAR © Maria Baranova