Am 28. Dezember 1955 wird in Baling, im nördlichen Malaysia, Weltgeschichte geschrieben. In den „Baling Talks“ verhandeln kommunistische Widerstandskämpfer und Vertreter der britischen Kolonialregierung bis tief in die Nacht über ein mögliches Ende des als „Malayan Emergency“ bezeichneten Guerillakrieges und die Unabhängigkeit Malaysias – und scheitern.
Martine Dennewald im Gespräch mit Mark Teh, der einen Einblick in die Geschichte seiner Heimat und seine Recherchearbeit gewährt.
Seit 2005 haben Sie eine Reihe von Theaterprojekten um die Baling-Verhandlungen von 1955 entwickelt. Was war Ihr Ausgangpunkt?
Der Gedanke an eine Baling-Serie ist noch nicht sehr alt. 2003 brachte Chin Peng, exilierter Generalsekretär der Kommunistischen Partei von Malaya (Malayan Communist Party; MCP), seine heftig umstrittene Autobiographie heraus: Alias Chin Peng – My Side of History. Darin stellt er die offizielle Version der malaysischen Geschichte in Frage, die von der Barisan Nasional (der Nationalen Front) verbreitet wird, jener Koalition ethnisch orientierter Parteien, die Malaysia seit seiner Unabhängigkeit von Großbritannien 1957 regiert. Chin Pengs Buch hat auch andere linke Führer der ersten Stunde ermutigt, ihre Geschichten zu erzählen. Zur gleichen Zeit konnten Forschungen von Historikern und Journalisten neu bewerten, inwiefern die MCP die Briten unter Druck gesetzt und so die Unabhängigkeit beschleunigt hatte. Im Grunde sind das Versuche, die monolithische politische Geschichte Malaysias stärker zu differenzieren.
Diese Veröffentlichungen gaben uns vielfältige Ansätze zur „Unabhängigkeit“, Identität und Geschichte Malaysias an die Hand. Es war nun möglich, verschiedene Vorlagen und Vorstellungen unserer frühen Nationalstaatlichkeit zu vergleichen, zu diskutieren und sich auszumalen – sehr bedeutend für einen Nationalstaat, der seit 1957 von einer einzigen Koalition regiert worden war.

Wann wurden die Protokolle der Baling-Verhandlungen veröffentlicht?
1998 erschienen sie in Tunku Abdul Rahman and His Role in the Baling Talks: A Documentary History. Als 2005 die erste Version unserer Theaterarbeit Baling gezeigt wurde, wussten nur wenige von der Existenz der Protokolle der gescheiterten Friedensverhandlungen und dass die Bedeutung von Unabhängigkeit, Loyalität, Terrorismus, Freiheit, Kapitulation und Nationalstaatlichkeit noch vor der Gründung der Nationalstaaten Malaya und Singapur intensiv diskutiert wurde.
Die Baling-Fassung, die wir in Braunschweig zeigen, ist nach dem Tod (2013) des letzten Teilnehmers der Verhandlungen entstanden – dem exilierten MCP-Führer Chin Peng, der Malaysia nie mehr betreten durfte. Am Ende seines Lebens erwähnte er, dass vielleicht Freunde seine Asche in seiner Heimatstadt ausstreuen könnten. Die Regierung reagierte heftig; Innenminister Zahid Hamidi erklärte, die Armee würde an der thailändischen Grenze dafür sorgen, dass Chin Pengs sterbliche Überreste nicht nach Malaysia gelangten.
Das erzählte uns viel über den Einfluss der Geschichte auf unsere Gegenwart, über Begriffe wie Grenzen, Exil, Ausschluss und „Verschmutzung“ sowie auch über die Flüchtigkeit von Staub, Asche und Geistern und dass diese nie verschwinden können.
Erzählen Sie uns von den Erinnerungen der Bevölkerung an den Malaiischen Notstand (1948-60).
Sie sind sehr komplex und widersprüchlich. Malaya erlebte während dieser Zeit Krieg und Unabhängigkeit. Die Briten wählten den Begriff „Notstand“ (Emergency), damit mögliche Schadensfälle in ihren Blech- und Gummiunternehmen in Malaya von der Versicherung abgedeckt wurden, während die MCP stets betont hat, dass sie einen antikolonialen Revolutionskrieg führte. Malaya wurde 1957 unabhängig, und diese Kämpfe gingen in einen Bürgerkrieg über.
Offiziell lernen wir die romantische Geschichte von der Unabhängigkeit, der Nation und dem Sieg über die Kommunisten, aber natürlich gibt es andere Schichten und Strömungen, die kritisch untersucht werden müssen.

Wie unterscheiden sich die Meinungen unter denen, die den Notstand erlebt haben?
Für die Generation, die die Gewalt selbst erlebt hat, sind die Narben noch frisch. Daher durfte Chin Peng nie nach Malaysia zurückkehren – es hieß, die Angehörigen der ehemaligen Soldaten, die gegen die Kommunisten gekämpft haben, würde das emotional belasten.
Die Kommunisten führten ihren Guerillakrieg im Schatten des malaysischen Dschungels, daher kursieren viele Geschichten, Aberglauben und Legenden über sie. Für die einen sind sie kaltblütige Terroristen, andere hatten Angehörige, die in Armee oder Polizei gedient haben und gestorben sind, und wieder andere sehen sie als antikolonialen Widerstand.
Welchen Quellen haben Sie bei Ihrer Recherche für Baling am meisten oder wenigsten vertraut?
Ganz ehrlich: allen gleich. Dazu gehören die offiziellen Unterlagen, die Archive und Dokumente der MCP, und sogar die Erinnerungen und Geschichten unserer eigenen Familien. Ich möchte die komplizierten historischen Diskurse und Vermutungen im heutigen Malaysia auseinandernehmen, um einen Raum zu schaffen für die Differenz und das Marginale.

Und zum Schluss bitte drei Schlagwörter, die Ihre künstlerische Arbeit zusammenfassen.
In einem jungen Land ohne Gedächtnis (meine Mutter ist älter als Malaysia!): Geschichte, Erinnerung, Partizipation.
Aus dem Englischen von Henning Bochert
Alle Fotos: Szenen aus Baling. Foto: Asian Arts Theatre