Von Ho Tzu Nyen
Auf Java, heißt es, würde man nach Sonnenuntergang das Wort macan (Tiger) nicht aussprechen, aus Angst, sein Erscheinen zu beschwören. Stattdessen bezeichnen die Leute ihn dort als guda, nach dem Sanskritwort für verborgen oder geheim.

Schattenspiel aus Ten Thousand Tigers, 2014 . Foto: The Esplanade Theatre Studio, Ken Cheong
Was man nicht wissen kann oder nicht wissen will, übergeht man schweigend. Daher bezeichnen bestimmte Stammesgruppen auf der Malaiischen Halbinsel den Tiger nur, indem sie die rechte Hand wie eine Klaue ausstrecken. Die Gayo von Sumatra nennen ihn Mpu uton (Großvater des Waldes), während die Achinesen ihn als datok (Großvater oder Ahne) oder als gop bezeichnen (jemand anders; auch gebräuchlich für Menschen aus einem anderen Dorf oder einfach Fremde).1 Diese Decknamen erzählen uns etwas über das Geheimnis des Tigers: er ist ein Geschöpf des Waldes, ein Naturwesen und den Menschen fremd. Tiger kamen vor mehr als einer Million Jahren nach Südostasien, lange vor dem Auftauchen des Homo sapiens.
Als sich die ersten Menschen in der Region niederließen, waren besonders die Übergangszonen zwischen Wald und Gewässern ihr bevorzugter Lebensraum. Noch verfügten sie nicht über die Fähigkeit, diese savannenähnliche Landschaft zu beherrschen, an die der Tiger so perfekt angepasst war. Um in diesem Terrain zu überleben, mussten sich die Menschen dem Tiger anpassen, so dass die beiden Arten verschmolzen.
Diese Grenzüberschreitung zwischen Natur und Kultur zeigt sich insbesondere in den Heilungsritualen einiger Dorfschamanen: Ihre Hände scheinen die Form von Tigerpranken anzunehmen, oder sie ahmen das Verhalten des Tigers nach. Der Tiger wiederum soll beim Überqueren von Seen und Flüssen menschliche Gestalt annehmen können.
Schriftlich lässt sich der „Malaysia-Wertiger“ zuerst in einer frühen chinesischen Quelle aus dem fünfzehnten Jahrhundert belegen: Die Wunder der Meere. Der Autor Ma Huan war Dolmetscher für Admiral Zheng He, den großen Navigator-Eunuch der Ming-Dynastie. Über seinen Besuch in Malakka schrieb er: „In dem Ort leben Tiger, die menschliche Gestalt anzunehmen vermögen; sie gehen auf den Märkten herum, wo sie sich unter das Volk mischen. Sollte jemand ein solches Wesen erkennen, wird dieses ihn packen und töten.” Man glaubt, dass dem Wer-Tiger in menschlicher Gestalt das Philtrum fehlt, die Kerbe in der Oberlippe, und dass er keine feste Wohnstatt hat: ein Landstreicher, ein Bettler oder Schamane, Grenzgänger zwischen Natur und Zivilisation.

Unterbrochene Straßenmessung, Holzschnitt nach Heinrich Leutemann (1824-1905)
Der Druck zeigt den britischen Landvermesser George Dromgold Coleman bei einer seiner Landvermessungstouren im malaysischen Dschungel im Jahr 1835. Es wird berichtet, dass der Tiger niemanden verletzte, sondern nur das Winkelmessinstrument Coleman’s umwarf.
Der Druck stammt aus Die Tigernoth in Singapore, einem Artikel, der in der 1865 in der Gartenlaube erschien. Die Gartenlaube war ein Vorläufer heutiger Illustrierten. Sie erschien ab 1853 in Leipzig.
Die britische Kolonialherrschaft über die Malaiische Halbinsel brachte eine historische Veränderung mit sich, die gleichermaßen ökologische und kosmologische Folgen hatte. Tiger wurden abgeschlachtet und Wer-Tiger ins Reich der Folklore verbannt. Aber gleich einer Leibniz’schen göttlichen Maschine, die tierisches Leben bloß als monadische Komposition begreift, welche keinen Tod, sondern lediglich endlose Neukonfigurationen kennt, sucht der Tiger die Region in immer neuen Verkörperungen heim. 1942 übte die japanische 25. Armee unter Führung des japanischen Generals Tomoyuki Yamashita, auch bekannt als Tiger von Malaya, Rache an den britischen Streitkräften auf der Malaiischen Halbinsel. Die japanischen Einheiten bewegten sich rasch durch den Wald, wild, amphibisch und listig im Kampf verkörperten sie scheinbar genau jene Eigenschaften, die den Tiger zu einem gefürchteten Gegner der frühen britischen Siedler gemacht hatten.
Den wichtigsten Widerstand gegen die japanische Besatzung der Malaiischen Halbinsel leistete die Malayan People's Anti-Japanese Army (MPAJA), eine Guerillatruppe unter Führung der Malaiischen Kommunistischen Partei. Als die japanischen Streitkräfte 1945 kapitulierten, ging die Bezeichnung Tiger allmählich auf die Kommunisten über, die nun für die zurückkehrenden britischen Streitkräfte, geschwächt und ausgelaugt vom Krieg, eine sehr reale Bedrohung darstellten. die Briten reagierten schließlich, indem sie ihre Bestimmungen für Waldgebiete verschärften, Kopfgelder in bar aussetzten sowie Hetzjagden und Überfälle organisierten, dieselben Strategien also, mit denen sie schon den Malaysia-Tiger vernichtet hatten. Bei der Jagd nach der kommunistischen Guerilla standen die Briten im Schatten des dichten Tropenwaldes allerdings hin und wieder einem Tiger gegenüber.
Dem Pfad des Wer-Tigers zu folgen bedeutet auch, seine beständige Metamorphose nachzuvollziehen – eine anthropomorphe, jedoch nicht anthropozentrische Linie, zugleich materialistisch und metaphorisch. In den zahllosen Verflechtungen dieser metaphorischen Linie werden die Umrisse einer Region erkennbar, deren Gestalt sich wandelt.